Seit gestern wird auf FB eine sehr lesenswerte Präsentation geteilt, die kürzlich als Vortrag auf dem 1. Greyhound World Congress in Oslo gehalten wurde.
Man könnte jetzt einfach ein Like setzen und den Beitrag teilen, vielleicht noch die Aufforderung „Lesenswert!“ dazupacken und weiter zum Tagesgeschäft übergehen.
Aus Erfahrung weiß ich aber, dass das leider nicht unbedingt den gewünschten Effekt hat – nämlich mit dem Inhalt auch die zu erreichen, die es nötig hätten. Es ist natürlich fraglich, ob das hiermit besser funktioniert, aber weil ich das Thema so wichtig finde und weil steter Tropfen bekanntlich selbst die härtesten Steine irgendwann höhlt, möchte ich die Gelegenheit nutzen und einige der darin erwähnten Aspekte wieder einmal aufgreifen.
Der Vortrag lief unter der Überschrift
Greyhound Neuropathy – what lessons to learn?
und kann mit einem Klick auf den Link im Beitrag heruntergeladen werden. (Macht das, jetzt! 😉 )
Erbliche Neuropathie beim Greyhound – schon wieder so Greyhound-Kram, sollte das Whippetleute überhaupt interessieren?
Ja, sehr sogar. Dieser Vortrag sollte für alle Hundezüchter und für gut informierte Welpenkäufer interessant sein!
Nebenbei bemerkt ist er auch gut aufgebaut und gut verständlich, einzig die Sprache könnte ein Hemmnis darstellen.
Schön wäre außerdem, wenn tatsächlich etwas gelernt und vor allem angewandt werden würde…
Zur Vortragenden: Dr.med.vet. Barbara Kessler ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department für Molekulare Tierzucht und Biotechnologie der LMU München, darüber hinaus Greyhoundzüchterin und beteiligt an der Forschung zur Polyneuroptahie beim Greyhound. Genaueres zur Polyneuropathie des Greyhounds und zur Entdeckung der verantwortlichen Genregion findet man übrigens hier: A Deletion in the N-Myc Downstream Regulated Gene 1 (NDRG1) Gene in Greyhounds with Polyneuropathy
Es handelt sich bei dieser Präsentation also um fundiertes Wissen, ernstzunehmende Informationen und Ansätze 😉
Da die Hereditäre Polyneuropathie als Aufhänger dient, kurz ein paar Worte dazu: Die erbliche Polyneuropathie beim Greyhound ist eine neurodegenerative Erkrankung mit autosomal rezessivem Erbgang, die bereits in einem jungen Alter (etwa ab 3 Monaten) auftritt und unweigerlich zum Tod führt, meist noch im 1., spätestens aber im Laufe des 2. Lebensjahres. Bedingt durch Veränderungen an den Nervenfasern kommt es zu verschiedenen Symptomen, die anfangs vor allem das Gangbild betreffen, es gesellen sich jedoch rasch weitere neurologische Auffälligkeiten hinzu, die Muskeln atrophieren, der Hund hat Probleme beim Schlucken, Bellen usw.
Unter „Gesundheit“ kann man hier mehr dazu auf Deutsch lesen: Rumford Greyhounds
Durch den 2009 entwickelten Gentest lassen sich jedoch Würfe mit erkrankten Welpen verhindern, sodass bei verantwortungsvollem Umgang mit der Mutation heute kein Greyhound mehr daran sterben muss. Bei einem Anteil von etwa 25% Trägern (1 von 4 Hunden) in der Population war das auch dringend notwendig.
Was jedoch nicht notwendig ist, und da gibt es immer wieder Verständnisprobleme, ist ein vollkommener Ausschluss von Trägern aus der Zucht. In diesem Fall wäre das eine Katastrophe gewesen, eine enorme Einschränkung des Genpools mit unabsehbaren Folgen für die Gesundheit der Hunde. Aber auch bei weniger verbreiteten Mutationen kann ein vollständiger Ausschluss von Trägern zum Auftreten neuer Erkrankungen führen, denn ich reduziere damit immer die durch geschlossene Zuchtbücher ohnehin geringe Diversität innerhalb einer Rasse.
An dieser Stelle möchte ich auf diesen Artikel verweisen, in dem ich kurz versucht habe, auf ein paar Grundlagen und die Wichtigkeit genetischer Diversität einzugehen.
Beim Thema Kryptorchismus kommt die Frage nach einem züchterischen Einsatz von Eltern und Geschwistern immer wieder auf und wie hier bereits ausgeführt: Es ist nicht sinnvoll, potentielle Träger auszuschließen, erst recht nicht bei komplexen Erbgängen mit möglicher Umweltbeteiligung.
Rund 70% der genetisch bedingten Gesundheitsprobleme beim Rassehund sollen durch rezessive Mutationen ausgelöst werden (Quelle: ICB), wir stünden also direkt vor dem Aus, würden wir hier allzu rigoros vorgehen.
Prinzipiell ist der Greyhound nicht die einzige betroffene Rasse, die ursächlichen Mutationen betreffen jedoch unterschiedliche Gene, sodass man nicht einfach „einen Test für alle“ anwenden kann. Es zeigte sich im Rahmen der Forschung auch, dass diese spezielle Mutation nur in Showlinien auftrat, nicht in den untersuchten Rennlinien und nicht in anderen untersuchten Windhundrassen.
Und ab hier kann man nun auch als Whippetmensch bzw. generell als Hundemensch etwas lernen.
Denn wie kommt es zu so einer Verteilung und warum war dieser bereits bei Junghunden auftretende und tödliche Defekt überhaupt so weit verbreitet?
Statt der Neuropathie lässt sich eine beliebige andere Mutation mit rezessivem Erbgang einsetzen, z.B. die Myostatin-Mutation bei den Whippets, die nur in Rennlinien vorkommt (um das Fingerzeigen auf die Showhundezucht gleich mal zu unterbinden), MDR1 bei Hütehunden und deren Verwandtschaft und was es leider noch so alles gibt.
Zwei Hauptursachen für die Verbreitung werden in diesem Vortrag genannt:
Die Matadorzucht (bekannt auch der Begriff Popular-Sire-Effekt) und die massive Inzucht zur Produktion immer einheitlicherer Greyhounds mit den gewünschten optischen Merkmalen.
Dass Inzucht nicht gesund ist und Matadorzucht schädliche Effekte mit sich bringt, ist nicht neu. Inzuchttabus gibt es in jeder Gesellschaft und so gut wie alle Tiere und Pflanzen versuchen durch zahlreiche Mechanismen, anatomische bzw. reproduktive Besonderheiten und Verhaltensweisen Inzucht zu vermeiden.
Das wissen wir doch eigentlich alle, oder sollten es zumindest wissen.
Die Geschichte vom Malzhund, die die Genetikerin Irene Sommerfeld-Stur übersetzt und auf ihrer Homepage zur Verfügung gestellt hat, ist ebenfalls bereits seit 20 Jahren im Umlauf.
Aber es ist viel zu vielen Menschen egal, denn entweder hatten sie bisher Glück und mussten noch keine negativen Folgen dieser Zuchtpraktiken erleben, oder aber, was sehr viel wahrscheinlicher ist, sie führen es nicht darauf zurück.
Als dritte Möglichkeit ist eine gewisse „Wurschtigkeit“ anzuführen, nicht für jeden hat ein Hund den selben Stellenwert und man kann über das produzierte Leid hinwegsehen, wenn dafür Show- oder Sporterfolge winken.
Das hohe Inzuchtniveau innerhalb der Showgreyhoundpopulation rührt daher, dass es sich um eine eher seltene Rasse handelt (auf mich wirkt es momentan jedoch, als gäbe es eine Tendenz nach oben, denn noch sind Erfolge mit einer so glamourösen und showigen Minderrasse leicht zu holen), die noch dazu schon seit Jahrzehnten quasi nicht mehr mit der riesigen Rennhundpopulation vermischt wurde. Entsprechende Analysen zeigen das ja auch, genetisch sind die beiden Populationen so weit voneinander entfernt, dass man sie als unterschiedliche Rassen werten könnte.
Auch sind die Folgen der Inzucht schon ein wenig ein Problem der reinen Showhundezucht, denn einheitliche Optik erzielt man am schnellsten und effektivsten eben durch Inzucht. Zusätzlich müssen Showhunde in der Regel nicht mehr hart arbeiten und Leistung erbringen, also erfolgt auch keine Selektion auf hohe Widerstandskraft und Belastbarkeit. Verschiedene Untersuchungen am Labrador Retriever und an diversen anderen Rassen zeigten, dass Hunde aus Leistungslinien eine höhere genetische Diversität aufweisen.
Aber zurück zur Hereditären Neuropathie und all den anderen Defektgenen.
Mitte des vergangenen Jahrhunderts wurde also ein Rüde geboren, der diese zufällige Mutation trug. Es war offensichtlich ein beeindruckender Ausnahmerüde und er wurde gerne zur Zucht verwendet, hatte also entsprechend viele Nachkommen. Da es insgesamt nur wenige Showgreyhounds gab und davon noch weniger in der Zucht eingesetzt wurden, darüber hinaus die Inzucht/Linienzucht die Zuchtpraxis der Wahl war und ist, verbreitete sich diese Mutation rasant.
Ein mutiertes Allel zu tragen ist für den Hund kein Nachteil, das „gesunde“ Allel sorgt schon dafür, dass im Körper alles richtig läuft. Blöderweise sieht so aber auch niemand, dass hier etwas im Verborgenen schlummert. Das wird erst offensichtlich, wenn Welpen mit zwei mutierten Allelen geboren werden, die Krankheitssymptome zeigen. Und auch dann wird in der Regel erst mal abgewartet, ob sich Fälle häufen.
Es ist manchmal also schon 5 vor 12, bevor entsprechende Handlungen gesetzt werden.
Diesen Effekt haben wir in so vielen Rassen mit den verschiedensten Defekten, auch beim Whippet. Beim Whippet sind es eben andere Gesundheitsprobleme, am stärksten auf dem Vormarsch sind wohl autoimmunbedingte Erkrankungen mit allen Facetten und mit nicht weniger drastischen Auswirkungen (übrigens kurz erwähnt im Vortrag).
Anhand betroffener Hunde und deren Pedigrees lässt sich bei manchen Erkrankungen sehr leicht ein potentieller Vererber finden, dazu muss man als Züchter jedoch aufmerksam und in der Lage sein, Verknüpfungen herzustellen. Und es braucht Gleichgesinnte, die sich an der Suche nach Informationen beteiligen.
Bei der Myostatin-Mutation lag der Grund für die Verbreitung womöglich darin, dass Träger der Mutation leistungsfähiger sind als andere. Man wusste anfangs natürlich nicht, dass die Hunde eine Mutation tragen, insofern kann man keine bösen Absichten unterstellen.
Dass MDR1 und CEA beim Silken Windsprite vorkommen und dort auch viele Tiere Träger oder Betroffene waren, liegt daran, dass in einer neuen Rasse zwangsweise sehr viel Inzucht bzw. Inzest betrieben wird, um Merkmale zu festigen. Nur festigt man eben nie nur das, was man sieht, sondern auch das, was noch verborgen ist. Und 50 Jahre später knabbert man noch immer daran.
Beim Dobermann gibt es seit Jahren das Problem mit der DCM (50-60% der Hunde sind betroffen und sterben daran) und der Zuchtverband negiert es, in verschiedenen Retrieverrassen grassieren unterschiedliche Krebsarten und sorgen für den frühen Tod halber bis ganzer Würfe und Basenjis gingen am Fanconi-Syndrom fast zugrunde, bevor man mit Importen eine Rettungsmission startete. Die Liste lässt sich für jede einzelne Rasse erweitern.
Die Ursachen sind immer identisch, denn es liegt nicht an einzelnen Hunden, es liegt an den Zuchtpraktiken.
Zu sagen, der Whippet wäre eine gesunde Rasse, ist also ziemlich naiv.
Wir Whippetleute sind auf dem besten Weg, in die selbe Falle zu tappen wie die Greyhoundleute: Wir trennen immer mehr die Show- und Rennlinien voneinander, nutzen auf beiden Seiten einzelne Rüden übermäßig oft, achten viel zu wenig auf kleine Warnzeichen, nutzen noch zu selten die Möglichkeiten von Gesundheitsuntersuchungen und Genanalysen und stellen Showerfolge und Millisekunden vor alles andere.
Gelernt haben auch „wir“ bisher noch nichts, das ist das negative Fazit, das man allerdings für viele (alle?) Rassen ziehen kann.
Zu oft heißt es noch, „das“ betrifft „uns“ nicht, leider sogar häufig „das“ betrifft „mich“ nicht.
Ich empfinde das Beispiel der Polyneuropathie beim Greyhound als recht eindrücklich geschildert und gut nachvollziehbar.
Folgendes positives Fazit könnte man ziehen: Wir wissen mittlerweile, dass die gewohnten Zuchtpraktiken ganz konkret Leben kosten. Wenn nicht unmittelbar, dann auf mittel- oder langfristige Sicht. Daher sollten wir sie nicht mehr unreflektiert anwenden.
Wir können mittlerweile auf zahlreiche Defektgene testen und die Forschung schreitet rasch voran. Einzig den richtigen Umgang mit Findings und Trägern muss man lernen.
Wir können genomische Inzuchtkoeffizienten ermitteln lassen und darauf bei unseren Verpaarungen achten. Das ist einfach, da bleibt nicht viel Interpretationsspielraum.
Wir können mithilfe moderner Methoden auf die genetische Vielfalt achten, sei es generell oder ganz speziell im Bezug auf die für das Immunsystem relevanten DLA-Haplotypen. Auch das liefert eindeutige Handlungsempfehlungen.
Wir können Diversität auch auf die „alte“ Art und Weise fördern, indem wir Show- und Leistungslinien wieder durchmischen, alte Linien nutzen und uns nicht von Menschen beeinflussen lassen, die das als Nonsens abtun und Hunde aus solchen Verpaarungen als „weder Fisch noch Fleisch“ bezeichnen. (Kleiner Hinweis am Rande: Die Kritiker haben meistens Unrecht, was sie wüssten, würden sie über den Tellerrand schauen 😉 )
Wir könnten also die Hunde in den Vordergrund stellen und es würde uns nichts kosten, außer ein bisschen Mut, in anderen Bahnen zu denken.
Ok, und vielleicht ein paar Euro. Ein Test auf über 170 monogene Erkrankungen und die individuelle genetische Diversität ist bereits ab 99,- zu haben…
Bitte schaut euch also diese Präsentation an, besucht oder organisiert gar Vorträge, lest auf den vielen Seiten von Leuten wie Irene Sommerfeld-Stur (oder kauft ihr Buch) oder eben auch The Greyhound Show (die immer wieder interessante Artikel online stellen), dem Institute of Canine Biology usw., nutzt entsprechende Gruppen und fragt, wenn ihr etwas nicht versteht. Wissen ist dazu da, geteilt und angewandt zu werden. Wer sich mit diesen Themen beschäftigt, tut das im Regelfall erst mal aus purem Idealismus und nicht, weil er sich über andere stellen will. In der Hoffnung, dass eben doch der eine oder andere etwas lernt.
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